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Wilma Ruth ALBRECHT

RuthWilmaBuch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wilma Ruth Albrecht:
ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts.
Demokratischer Heimatroman.

edition Spinoza
Verlag freiheitsbaum Reutlingen
Band 1 und 2
359 S., kart., 18 €.
ISBN 978-3-922589-63-1

Die deutsche Sozial- und Sprachwissenschaftlerin Dr. rer. soc. Wilma Ruth Albrecht (*1947 in Ludwigs-hafen/Rhein) veröffentlicht seit Jahrzehnten in ihren Arbeitsschwerpunkten Literatur-, Politik- und Archi-tekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In ihrer Roman-Quadrologie stellt die Autorin erstmals ihr episches Können vor. Der 2009 begonnene vierteilige Roman des Kurzen Jahrhunderts ÜBER LEBEN steht im Rahmen ihrer vorangegangenen sozialgeschichtlichen Arbeiten: Bildungsgeschichte/n (2006), Harry Heine (2007), Nachkriegsgeschichte/n (2008), PFALZ & PFÄLZER-LeseBuch zum pfälzer Volksaufstand 1849 & Neun Briefe an Jenny (2014 in unserer edition Spinoza erschienen) und Max Slevogt (1868-1932). Leben, Werk, Landschaft und Wirkung (2015). 2010/12 veröffentlichte sie Aufsätze über Arbeiterbewegung und literarische Familienchronik (im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung II/2010) und über Willi Bredels Romantrilogie Verwandte und Bekannte (1941–1953) (in Auskunft II/2012).
Mit ihrem ersten Band von ÜBER LEBEN, einem demokratischen Heimatroman, erprobt Wilma Ruth Alb-recht nicht weniger als eine in der ehemaligen Kurpfalz angesiedelte exemplarische proletarische Familien-chronik. Es geht „weder um eine historische Dokumentation noch um eine journalistische Reportage. Ein Roman ist kein dokumentarischer, sondern ein fiktional-literarischer Text. Im Roman geht es nicht um die wirkliche Wirklichkeit und um die Frage – ist das, was beschrieben wird, so und nicht anders wirklich pas-siert. Im Roman geht es um eine mögliche Wirklichkeit und darum, dass das, was hier erzählt wird, so hätte passieren können.“ – Dabei haben sich bereits andere am Genre des proletarischen Familienepos erprobt. In Willi Bredels Verwandte und Bekannte, Hans Marchwitzas Die Kumiaks und August Kühns Die Vorstadt ging es um die Verknüpfung des Familienmilieus mit den politischen Kämpfen der Zeit. Albrechts Epos verzichtet dagegen auf Stereotypen. Ihre Protagonisten werden sehr menschlich, oft aus der Frauen-perspektive, in ihrer Widersprüchlichkeit differenziert, feinfühlig und selbstkritisch dargestellt. Die Leser erfahren Einblicke in die Alltagskultur, Fragen der Moden, Haushalt und Arbeitswelt, Finanzen, private Sor-gen und fröhliche Feiern. Albrechts Milieuroman ergänzt in gewisser Weise Eduard Fuchs Illustrierte Sitten-geschichte und Jürgen Kuczynskis Geschichte des Alltags des deutschen Volkes um proletarische und klein-bürgerliche regionale Aspekte.
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Beginnend im Milieu einer kleinen Winzerfamilie spannt sich die Erzählung über das gesamte 20. Jahr-hundert. Die Familien Decker, Ensinger & Co geraten in den Sog der entstehenden Chemie-Industriemet-ropole Ludwigshafen. Die in der ländlichen Pfalz sozialisierten ArbeiterInnen finden sich als neues Indust-rieproletariat im BASF-Werk wieder. In das Leben der Proletarier-Innen griffen Weltkriege und Nachkriegs-kämpfe existenziell ein und nötigten die Protagonisten immer wieder zum bewussten gewerkschaftlichen und politischen Handeln. Eingewoben in die Handlung wird die „große Politik“ durch Zitate von Originalreden und -dokumenten. Neben Gewerkschaftern und sozialistischen Politikern treten die Direktoren der BASF, Naziverbrecher, aber auch Künstler wie Max Slevogt und Friedrich Wolf und viele andere auf. Bezüge zu realen historischen Ereignissen lassen die LeserInnen zu zeitgenössischen Beobachtern werden. Der Roman wird zum exemplarischen Geschichts-Lesebuch des 20. Jahrhunderts der Pfalz aus der Sicht der mehr oder weniger politisch bewusst handelnden ArbeiterInnen in Ludwigshafen (und Mannheim). Darüber hinaus geht es im Roman auch um eine neue Sicht auf eines der übelsten Kapitel der deutschen Geschichte, der der I.G. Farbenindustrie AG und deren Rüstungsproduktion und Giftgasherstellung: 1925 hatten sich die führenden deutschen Chemie-Konzerne zum I.G.-Farben-Trust zusammengeschlossen und später maßgeb-lich am Aufstieg und an den größten Verbrechen des deutschen Faschismus mitgewirkt. Die Geschichte der IG-Farben von 1930 bis 1947 beschreibt der DEFA-Spielfilm Der Rat der Götter von Kurt Maetzig 1950. Das Drehbuch schrieb der Dramatiker und Arzt Friedrich Wolf (der in diesem Buch auch an anderer Stelle auf-tritt), der die IG-Farben-Akten der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse hierfür auswertete. In einer zent-ralen Szene des Films, die auf die illegale Wiederaufrüstung verweist und in Ludwigshafen spielt, geht es um eine verbotene Sprengstoffübung …
Wilma Ruth Albrechts ÜBER LEBEN Roman des Kurzen Jahrhunderts ist als Quadrologie angelegt. Die von der edition Spinoza veröffentlichte erste Buchausgabe enthält die beiden ersten Bände. Der erste Band behandelt in fünf Teilen die Jahre 1904 bis 1945, der zweite Band in vier Teilen die Jahre 1945 bis 1967. Das zweite Buch wird mit den Bänden drei und vier folgen und die Zeit bis 1989/90 darstellen.
ÜBER LEBEN Roman des Kurzen Jahrhunderts ist ein in epischer Breite angelegter sozialgeschichtlicher Roman. Er zeigt auch, dass proletarische Epen nicht nur in haupt-städtischen Zentren und ihren Parteizent-ralen, sondern auch in der Provinz stattfinden können und stattfinden.

Heiner Jestrabek

 

Ruth Wilma Albrecht

NACHKRIEGSGESCHICHTEN

Sozialwissenschaftliche Beiträge zur Zeit(geschichte)

Shaker-Verlag, 2007

ISBN: 978-3-8322-6506-9

Preis: 49,80 € / 99,60 SFr

Ruth Wilma Albrecht

HARRY HEINE

Aachen, Shaker, 2007, ii/112 p

ISBN 978-3-8322-6062-0

Preis: Euro 14.80

Hinweis:

Wilma Ruth Albrecht nennt ihr neues Buch schlicht und einfach Harry Heine. Das schmale Bändchen ist, im Wortsinn, ein Heine-Lesebuch. Im Mittelpunkt steht das neu gelesene und behutsam gedeutete literarische Werk des Dichters und Autors Heine (1797-1856), der erst nach seiner christlichen Taufe Heinrich hieß. Dem Heine-Lesebuch ist als Motto ein Hinweis Heines aus seinem Buch der Lieder (1837²) vorangestellt:
… laßt mir die Tugenden der Jugend, den uneigennützigen Groll, die uneigennützige Träne …
Wilma Ruth Albrecht geht es in ihrem Heine-Lesebuch vor allem um Heines Texte. Und nicht um literaturwissenschaftliche und/oder literarhistorische Sekundärliteratur. Wie wichtig dieser Zugang zum „Herz des Dichters“ als „Mittelpunkt der Welt“ ist, zeigte sich nicht zuletzt am Multiskandalon der letztjährigen Heinepreiseverleihung durch die NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf 2006: Würde es möglich sein, sich im Grab umzudrehn – Heine hätte genau dies getan, hätte er erfahren, daß ein aus welchen Gründen immer zum großdeutschen Modeliteraten avancierter südkärtner Provinzpublizist einen nach ihm benannten hoch dotieren Literaturpreis erhalten sollte (und diesen dann nach dem bekannten literarischen Modell des betrogenen Betrügers doch
nicht bekam …).
Wer Wilma Ruth Albrechts Heine-Lesebuch liest, wird erkennen können, warum auch diese Heine-Inszenierung in
postmodernistischer Manier wohl Heine als Vorwand nimmt – aber mit Leben und Werk, Politik und Moral Harry Heines wenig am Hut hat.
Wilma Ruth Albrechts Heine-Lesebuch präsentiert nicht nur werkzentriert Politik und Moral, Leben und Werk des Dichters und Autors chronologisch in fünfzehn Kapiteln, sondern enthält auch als zusätzliches, speziell Lehrer(innen) und Schüler(innen) ansprechendes, Kapitel die mehrfach erprobte Unterrichtseinheit der Autorin über „Heine und die Epoche des Vormärz“.
Im Vergleich mit den zeitgleich erschienen polemischen Heine-Essays des Gelehrten Jost Hermand, der Heine als „Kritisch. Solidarisch. Umstritten.“ (2007) vorstellt und zahlreiche sekundär- (und tertiär-) literarische Hinweise gibt, kommt Wilma Ruth Albrechts Heine-Lesebuch bescheidener und behutsamer daher. Aber auch ihr Heine-Lesebuch hebt sich wie Hermands großer Essayband, als dessen textbezogene Ergänzung es verstanden und aufgenommen werden kann, bewußt ab von jedem typischerweise an „Gedenkjahren“ wild ins Kraut schießenden medialen Heine-Rummel – spricht dieser doch vor allem jenen neuen anti-heineschen Typ des Pisa- oder Dummdeutschen an. Gegen dieses soziotypisch geprägte Deutschland polemisierte Heines Kunstfigur Monsieur le Grand so:
… und er trommelte jene allzu einfache Urmelodie, die man oft an Markttagen bei tanzenden Hunden hört, nämlich Dum-Dum-Dum …
Gegen diesen Strom des historisch-aktuellen Dum-Dum-Dum-Getrommel richtet sich Wilma Ruth Albrechts Heine-Lesebuch.